Wehrpflicht: Ein Konzept von gestern
In den vergangenen Wochen und Monaten wurde so viel über die allgemeine Wehrpflicht diskutiert wie schon lange nicht mehr. Die kurz bevorstehende Volksbefragung, ob es in Österreich weiterhin eine Wehrpflicht oder an ihrer statt ein Berufsheer geben solle, lässt die Stimmung brodeln. Nicht nur in der Regierungskoalition, sondern auch im Boulevard und natürlich in der Bevölkerung. Und die Frage, um die es geht lautet: Wollen wir das wirklich noch? Und wenn ja: Im Ernst?
An dieser Stelle nur ein paar wenige meiner Gedanken zu diesem Thema. Ein umfassenders Posting gibt es hier („Wehrpflicht – Unantastbar oder unhaltbar?“ Jänner 2011).Als erstes möchte ich gerne – inspiriert durch meinen Kollegen Herbert Geyer (Wehrpflicht: die Antwort ist nein) – ein Gedankenexperiment anregen. Stellen wir uns einfach für einen Moment vor, am Sonntag stünde an, eine allgemeine Wehrpflicht neu einzuführen und den selben Bedinungen zu unterwerfen, welche für die bisherige gelten.
Es müsste demnach ein System ins Leben gerufen werden, das im krassen Widerspruch zur (juristisch) längst etablierten Gleichstellung steht, nachdem sowohl Frauen, als auch EU-Bürger nicht-Österreichischer Staatszugehörigkeit ausgeschlossen werden. Es ginge darum, junge Männer zu einem mehrmonatigem Pflichtdienst einzuberufen, der weder annähernd adäquat bezahlt wird, noch irgendeinen Vorteil für Ausbildung oder berufliche Laufbahn mit sich bringt und der in geschätzten 70 – und gefühlten 90 – Prozent der Fälle auch darüber hinaus keinerlei erkennbaren Sinn hat, außer der verzweifelten Erhaltung des maroden Systems Bundesheer selbst.
Ginge es um die Neueinführung eines Bundesheeres mit dieser Form der „Nachwuchsarbeit“, würde das bedeuten, dass junge Männer am Ende (oder auch gerne mitten in) Ihrer Ausbildung in teils halb verfallene Kasernen einberufen würden, in denen sie dann etwa Offizieren als Kellner zu dienen hätten, als Kraftfahrer ohne Fahrerfahrung die eigenen Kameraden mit LKWs umherkutschierten, die auch in wohlwollendster Beugung der StVO nicht einmal zum Transport von Vieh zugelassen würden und mit heillos veraltetem Kriegsgerät künstlich herbeifabulierte Einsätze üben müssten, die mit größter Wahrscheinlichkeit in dieser Form niemals einträten.
Die Männer würden natürlich keineswegs ausreichend ausgebildet, um im (höchst unwahrscheinlichen) Ernstfall tatsächlich zu wissen, was zu tun wäre. Militärische Hierarchien, Befehlsketten und Verhaltensweisen, wie sie in einem bewaffneten Konflikt nötig sind, um einigermaßen sicher überleben zu können, können niemals in wenigen Monaten so sehr in Fleisch und Blut übergehen, dass man sie nach dem Abrüsten nicht bereits nach wenigen Tagen weitestgehend vergessen hätte (im Gegensatz zu den vielen skurrilen Erlebnissen, von denen jeder Ex-Grundwehrdiener zu erzählen weiß).
Selbstverständlich wird es Menschen geben, denen solche Dinge so viel bedeuten, dass die Ausbildung besser fruchtet, aber diesen steht ohnehin jederzeit frei, als Polizist oder Berufssoldat Karriere zu machen. Es gibt ja auch laufend EF („Einjährig Freiwillige“, also Menschen, die aus freien Stücken eine verlängerte Grundwehrdienstzeit ableisten) und Absolventen der Militärakademie, für den Nachwuchs scheint also gesorgt.
Eine Wehrpflicht hätte weniger Chancen als eine Zivildienstabgabe
Ich beuge mich da vermutlich nicht extrem weit hinaus, würde ich behaupten, eine solche Volksbefragung fände niemals statt. Käme tatsächlich irgendeine Partei auf die Idee, mit einem solchen Konzept an die Öffentlichkeit zu gehen, wäre die Begeisterung der WählerInnen sehr wahrscheinlich leicht überschaubar. Es ist auch jedem Menschen, der mit Verstand an der Diskussion zu dem Thema teilnimmt, klar, dass dem so ist. Aber die Tatsache, dass es nicht um die Einführung, sondern um die Aussetzung einer bereits bestehenden Wehrpflicht geht, scheint in so manchem sonst hellen Kopf das Licht auszuschalten.
Ich gehe sogar so weit, dass ich behaupte, es fiele wesentlich leichter, die WäherInnen von einer Art „Zivildienstabgabe“ in Höhe von 1 Prozent des Einkommens zu überzeugen, womit wir bereits einen Schwenk zu meinem zweiten Punkt machen, den ich hier deklarieren möchte. Dieser bringt nämlich meine Verwunderung zum Ausdruck, dass es am Sonntag zwar um die Aussetzung der Wehrpflicht und Installation eines Berufsheeres geht, in nahezu allen größeren Diskussionsrunden ging es aber überwiegend um all diejenigen, die eigentlich gar nicht ihrer Wehrpflicht nachkommen, sondern sich mittels Ersatzdient (vulgo Zivildienst) nicht der militärischen, sondern der zivilen bzw. infrastrukturellen Landesverteidigung widmen.
Ein ersatzloser Entfall der Wehrpflicht würde zwangsläufig bedeuten, dass auch weniger Zivildiener zur Verfügung stünden, um Krankentransporte, Altenpflege und vieles mehr zu erledigen, was unter herkömmlichen Bedingungen (Lohnkosten, Recruitingkosten, Personalentwicklung, etc.) unleistbar scheint. Ein Ausbleiben der Zivis ohne vergleichbare Alternative würde Institutionen wie das Rote Kreuz, die Caritas oder Geriatrieeinrichtungen vor ernsthafte und teils existenziell bedrohliche Schwierigkeiten stellen.
Die zentrale Frage: Wieviel ist es uns wert?
Unterm Strich stellt sich gerade bei diesem zweiten meiner Punkte die einzig zentrale Frage, die es in diesem Zusammenhang aufzuwerfen gilt: Wieviel ist es unserer Gesellschaft wert, dass bestimmte Dinge erledigt werden?
In vielen Punkten ist diese Frage klar beantwortet. Dem Staat Österreich war etwa im Jahre 2012 der Bereich Bildung (also dem BM für Unterricht, Kunst und Kultur) eine Summe von rund 8 Milliarden Euro wert, der Bereich Infrastruktur, Verkehr und Forschung erhält etwas mehr als 4 Milliarden. Hierbei hat sich die (vom Souverän gewählte) Politik auf jeweils eine Summe verständigt, die die in Geld übersetzte Bedeutung widerspiegelt, die man der Erledigung der jeweiligen Aufgabe zugesteht. Diese Einschätzung wird dann in Form des Budgetgesetzes manifest.
Den Ausgaben stehen natürlich auch Einnahmen gegenüber, die zu einem guten Teil darin bestehen, dass jeder Österreich artig einen Teil seiner Einnahmen und Ausgaben in Form von Steuern einbezahlt. Aus dem entstehenden Topf werden die Gelder dann auf die zu erledigenden Aufgaben verteilt (Kinder bilden und ausbilden, Kranke heilen oder pflegen, ein Altern in Würde ermöglichen, Infrastruktur aufrechterhalten, etc.). Sollte nicht gerade das System kreativer Geldvernichtung gepflegt werden, wie es offenkundig in so manchem Bundesland so hingebungsvoll betrieben wird, gibt es also eine Menge Geld zu verteilen. Welchem Bereich welcher Anteil zukommt, entscheidet in der Theorie indirekt der Wähler, in der Praxis direkt die Regierung mit Absegnung des Nationalrats.
Es ist also keineswegs so, dass ein Ersatz für den Zivildienst nicht finanzierbar wäre. Es ist vielmehr so, dass wir uns bis dato immer wieder aufs Neue – bewusst und willentlich – dafür entscheiden, keine (zusätzlichen) Steuergelder für Rettung, Sanitätsdienste oder Altenpflege ausgeben zu wollen, sondern bevorzugen, junge Männer ohne faire Entlohnung (also lediglich ein klein wenig freundlicher als in offen deklarierter Versklavung), ohne verwertbare Ausbildung und in aller Regel unwillig dazu heranzuziehen, diese Arbeiten zu verrichten.
Gäbe es in der Bevölkerung jedoch einen breiten Konsens, dass das Rote Kreuz gut personell ausgestattet gehört, dass die Caritas eine wichtige Aufgabe erfüllt und dementsprechend gut motivierte und ausgebildete Mitarbeiter rekrutieren können soll, der Zivilschutz im Katastrophenfall professionell und durchschlagkräftig organisiert sein soll und dass es in Österreich möglich sein soll, ein freudvolles Altern erleben zu dürfen, ohne sich stets darum sorgen zu müssen, ob sich morgen noch einer um einen kümmert, dann gäbe es diese ganze Diskussion vermutlich nicht oder in deutlich geringerem Ausmaß. Dann könnten wir ja auch gerne darüber diskutieren, ob wir generell ein Bundesheer benötigen oder nicht, aber darum geht es am Sonntag bekanntlich (noch?) nicht.
Am kommenden Sonntag geht es in erster Linie darum, unsere Söhne davor zu bewahren, ein halbes Jahr ihres Leben darauf zu verschwenden, ein sterbendes System ohne mit freiem Auge erkennbare Zukunftsaussichten im künstlichen Wachkoma zu erhalten.