Ein höchst dringender Aufschrei
Ein gesetzter Herr fortgeschrittenen Semesters, der eine junge Dame mit teils schlüpfrigen, teils chauvinistischen Phrasen eindeckt, überschreitet dadurch eindeutig die Grenze ihrer persönlichen Intimsphäre. Dennoch: Hätte es sich nicht zufällig um einen Prominenten deutschen Politiker und eine Journalistin des Stern gehandelt, gäbe es die Aktion #aufschrei vermutlich gar nicht. Zumindest nicht in dieser Form, in dieser Intensität. Die Tatsache, dass die Diskussion rund um das Thema „Alltagssexismus“ nun auch die Öffentlichkeit abseits der Social Media erreicht, ist jedoch wichtig – und höchst an der Zeit.
Vorab: Sexismus und sexueller Übergriff sind verschiedene Paar Schuhe
Eines der ersten und gravierendsten Missverständnisse kommt bei der jeweiligen Verwendung der Begriffe ans Licht. Auch wenn naturgemäß eine semantische Verwandtschaft besteht, sind Sexismus und sexuelle Belästigung nicht gleichsetzbar. In einem Fall geht es um unerwünschte Eingriffe in die intime Privatsphäre eines Menschen, im anderen um die Unausgewogenheit zwischen den Geschlechtern. In einem Fall geht es darum, die Frau in ihrer individuellen und intimen Sexualität zu missbrauchen (physisch oder verbal), im anderen um die Rolle der Frau hinsichtlich Gleichbehandlung (etwa Einkommenssituation oder Zuweisung von „typischen“ Geschlechterrollen).
Es fällt nicht immer leicht, diese Themen isoliert voneinander zu beleuchten, aber es ist schon ein gewaltiger Unterschied, ob ein Mann seiner Mitarbeiterin ungefragt – und von dieser unerwünscht – die Hand auf den Po legt oder ob sie aufgrund ihres Geschlechts weniger Gehalt bekommt. Es ist auch ein Unterschied, ob ein Mann einer Frau schlüpfrige Komplimente über ihre Brüste macht oder ob er davon ausgeht, dass sie – weil weiblichen Geschlechts – ohnehin besser im Haushalt („hinter’m Herd“, bei den Kindern, etc.) aufgehoben wäre als im Job.
Im Falle des sexuellen Übergriffs ist es übrigens aus meiner Sicht absolut unerheblich, ob die Finger des Mannes tatsächlich – ohne explizite Zustimmung der Frau, wohlgemerkt – über Po, Busen, Schoss oder auch nur die Hand der Frau streichen. Das große und seit jeher gerne gepflegte bzw. sogar kalkuliert fälschlich als solches benannte Missverständnis besteht in der Ansicht, ein sexueller Übergriff fände erst statt, wenn physischer Kontakt hergestellt wird. Dies ist definitiv falsch. Ein klar zum Ausdruck gebrachter Hinweis, dass er das gerne täte (ob subtil, schlüpfrig oder gar vulgär), ist für viele Frauen bereits der sprichwörtliche Schritt zu weit. Und das völlig zu recht.
Die Tatsache, dass es Menschen mit unterschiedlichem Umgang mit der Thematik gibt, mildert diesen Umstand keineswegs. Bei rotem Licht über die Ampel zu fahren bleibt ein Vergehen, auch wenn man persönlich der festen Überzeugung ist, dass eine Verkehrsregelung an dieser Kreuzung vielleicht eh nicht so wichtig sei. in diesem Zusammenhang haben es originellerweise sogar die hartnäckigsten Männer verstanden, dass ein klares Signal zum Anhalten nicht individuell diskutabel ist…
Die Abstufungen, die es hierbei zu unterscheiden gilt, sind selbstverständlich extrem unterschiedlich und sind – auf beiden Seiten – von zahlreichen Faktoren abhängig. Erziehung, Alter, Herkunft, Erfahrungsschatz, Rahmenbedingungen im Zuge der Erziehung bzw. Sozialisierung und viele mehr sind einzubeziehen, wenn es um die Bewertung einer individuellen Situation geht. Das 15-jährige Mädchen etwa, das von einem schüchternen 16-jährigen Jungen mit hochrotem Kopf ein patschert formuliertes Kompliment über ihre attraktiven Lippen erhält, wird diese seine Herangehensweise anders bewerten (müssen) als eine Büroangestellte, die ein ebensolches Kompliment von ihrem Arbeitskollegen mit frivolem Grinsen im Gesicht präsentiert bekommt. In einem Fall mag es eine jugendliche Kontaktaufnahme sein, der man keine ausufernde Bedenklichkeit zuerkennen muss, im anderen kann es jedoch schon eine deutliche Überschreitung der Grenze der meisten Frauen bedeuten.
Je nach Background werden also Betroffene die Situationen differenziert betrachten. Einigen Frauen wird die Hand des Kollegen um die Taille weniger ausmachen als anderen. Einige werden dreiste Anmerkungen bezüglich ihrer körperlichen Vorzüge als Kompliment auffassen, andere als Einbruch in ihre Intimsphäre. Frauen aus Großstädten, für die Anonymität und eine mehr oder weniger geschützte persönliche Sphäre eine Selbstverständlichkeit darstellen, werden die joviale Bemerkung über das „gebärfähige Becken“ anders bewerten als Frauen in ländlichen Bereichen, in denen das tradierte Rollenbild der Frauen noch – aus meiner Sicht, wohlgemerkt – dringend korrekturbedürftig ist.
Sicherlich gibt es Menschen, die gerne „mit dem Feuer spielen“. Es gibt Frauen, die es durchaus schätzen, direkt auf ihre knackigen Brüste oder andere physische Gegebenheiten angesprochen zu werden, die auch einen Klaps auf den Hintern durchaus tolerieren, laszive Blicke von Männern wohlwollend als Kompliment betrachten und die möglicherweise auch schnellem, anonymem Sex etwas abgewinnen können. Es darf jedoch getrost davon ausgegangen werden, dass solche Frauen eine Minderheit darstellen. In der Pornographie mag der Eindruck erweckt werden, jede Frau stehe quasi jederzeit zur Befriedigung männlicher Lust zur Verfügung, aber der Unterschied zwischen Realität und Fiktion sollte in dieser Hinsicht eigentlich ausreichend fest in den Köpfen verankert sein. Es geht schließlich auch kein geistig halbwegs gesunder Mensch davon aus, es gäbe Vampire, auch wenn es noch so viele Geschichten und Filme darüber gibt.
Der Vollständigkeit halber muss man selbstverständlich hinzufügen, dass Übergriffe bis hin zur Vergewaltigung kein ausschließlich von Männern ausgehendes Problem sind. In seltenen Fällen gibt es auch Frauen, die Männer unsittlich ansprechen bzw. unerwünschte sexuelle Handlungen erzwingen. Es ist jedoch ein recht klarer Überhang in die Gegenrichtung manifest, den kein mündiger Erwachsener reinen Gewissens negieren kann.
And now to something – more or less – completely different
Sexismus ist im Gegensatz zum vorigen Abschnitt nicht mit Sexualität, also körperlicher Annäherung zu verwechseln. Sexismus ist eine im Unterschied des Geschlechts begründete unterschiedliche Behandlung von Frauen und Männern. Hier geht es nicht um unkontrollierte Hände oder laszive Blicke, sondern um Rollenbilder, in denen Frauen und Männern bestimmte Eigenschaften zugewiesen werden, die im etsprechenden Zusammenhang keinerlei Bedeutung haben. Etwa wenn es darum geht, einer Sekretärin weniger Gehalt zu bezahlen als einem Sekretär, die jedoch beide exakt denselben Job mit exakt derselben Qualifikation zur exakt selben Zufriedenheit des Arbeitgebers absolvieren. Das Verfassen von Protokollen, die korrekte Durchführung der Buchhaltung, erfolgreiche Verkaufsabschlüsse oder auch das Führen eines Unternehmens sind gänzlich unbeeindruckt davon, ob ein Mensch eine Gebärmutter hat oder nicht. Das Kassieren im Supermarkt, das Lehren an einer Universität oder das Schreiben eines Romans hängen nicht davon ab, ob der jeweils daran arbeitende Mensch einen Penis hat oder nicht.
Sexismus ist somit gar nicht so weit vom Rassismus entfernt, wie Viele behaupten. In einem Fall ist das Geschlecht ausschlaggebend für eine Schlechterstellung, im anderen oft bereits ein im jeweiligen Land unübliche Name. Sowohl das Geschlecht als auch der Name sagen bekanntlich gleichermaßen nichts über Motivation, Qualifikation oder individuelle Eigenschaften aus, werden aber dessen ungeachtet – bewusst oder unbewusst – mit absurd hoher Relevanz als Kriterium zur Entscheidungsfindung herangezogen.
In aller Regel wird ins Feld geführt, dass Frauen aufgrund ihrer biologischen Natur als potenzielle oder angehende Mutter stets ein Risikofaktor seien, da sie ja quasi jederzeit „ausfallen“ könnten. Dies mag zwar teilweise „technisch korrekt“ sein, der Umgang damit ist aber dennoch nichts anderes als asozial und antiquiert. Einerseits deshalb, weil auch einem Mann jederzeit aufgrund einer Vaterschaft eine Karenz zusteht (und diese auch langsam vermehrt in Anspruch genommen wird), aber andererseits natürlich auch deshalb, weil keinesfalls jede Frau zwingend das Bedrüfnis haben muss, sich zu reproduzieren.
Die grundsätzliche Annahme, eine Frau müsse zweifelsohne Kinder haben wollen, so sie nicht bereits die Menopause hinter sich hat, ist faktisch gleichzusetzen mit der ebenso keinesfalls allgemein gültigen Annahme, ein Mensch mit dem Nachnamen Öztürk müsse zwingend mehrmals täglich ein Gebet verrichten. Ebenso wie der Name Öztürk auch von Atheisten, Griechisch Orthodoxen oder Buddhisten getragen werden kann, kann eine Frau aus unterschiedlichsten Gründen entschieden haben, keine Kinder gebären zu wollen.
Selbstverständlich kann man von gewissen Wahrscheinlichkeiten oder Statistiken ausgehen, die einen Ausschlag in die eine oder andere Richtung geben mögen, aber hier gilt der schöne Satz „Eine Statistik kann keine Aussage über den Einzelfall treffen“.
Im Normalfall ist der Einzelfall kein Ausnahmefall
Vieles kann man aus der #aufschrei-Aktion mitnehmen, manches muss, einiges sollte auch weiterhin thematisiert werden. Ein wichtiger Punkt ist der, dass auch der breiten Öffentlichkeit klar werden muss, dass die Zeit reif ist. Reif für eine letztlich unvermeidbare Richtigstellung in der Betrachtung der Geschlechterrollen – abseits der Biologie. Kein vernünftiger Mensch wird jemals auf die Idee kommen, Frauen und Männen völlig gleich „zu machen“. Es gibt eine Reihe unterschiedlicher Verhaltensmuster, eine Reihe unterschiedlicher physischer Eigenheiten und eine Reihe psychologischer. Sie alle sind zu bedenken, wenn man sich des Themas Sexismus annimmt.
Aus all diesen Unterschieden ist aber keinesfalls eine Legitimaton ableitbar, auf der aufbauend weniger Gehalt bezahlt werden muss, auf Basis derer eine Frau einen Job nicht bekommt, für den sie bestens qualifiziert ist, oder sie von vorn herein ausschließlich darauf vorbereitet wird, außer dem fruchtbringenden Einsatz ihrer Gebärmutter wenig zur gesellschaftlichen Prosperität beizutragen.
Irren ist männlich
Was mich im Übrigen primär zu diesem Blogposting animierte, war der Umgang von zahlreichen Männern mit dem #aufschrei, der nun die Runde macht. Zahlreiche Menschen, die in der Regel sehr zeitgemäße und „politisch korrekte“ Denkweisen pflegen, setzen bei dem Thema regelrecht aus. Da wird verharmlost, heruntergespielt, Frauen werden als übertrieben prüde oder frigide dargestellt und Handlungen relativiert. Die Mädels sollen sich nicht so anstellen und ein besoffener alter Mann, der einer Frau die Hand küsst, sei einfach schrullig und man solle darüber nicht rummosern.
Dass es einen Haufen Männer gibt, die die Thematik lediglich aufgreifen, um überschaubar originelle Witzchen à la „Meine Frau würde auch zu #aufschrei posten, gäbe es in der Küche WLAN“, verwundert wenig, auch wenn es zuweilen schmerzt, dass sich darunter zahlreiche Protagonisten finden, deren grundlegenden Denkweisen, Ansichten und Einstellungen sich häufig mit den meinen überschneiden.
Es erinnert zuweilen an die stetig wiederkehrenden Streitereien rund um Rauchverbote. Auch dabei zeigen selbst hoch intelligente und belesene Mitmenschen absurdeste Verhaltensweisen und protestieren heftig. Nichtraucher haben sich gefälligst andere Lokale zu suchen, wenn sie den Qualm nicht einatmen wollen. Man wolle sich nicht in seiner persönlichen Freiheit einschränken lassen und es sei ja ohnehin alles reine Hysterie pathologischer Gesundheitsfanatiker. Analog bei Diskussion rund um Verkehrsregulierungen in Innenstädten, bei denen sich Menschen als Autonarren outen, die in einem Parkplatz und uneingeschränktem Indidualverkehr ein grundlegendes und unantastbares Menschenrecht sehen.
Es warat an der Zeit…
Ich persönlich fände es großartig, wenn die Probleme Alltagssexismus und alltägliche sexuelle Grenzüberschreitungen langsam ihren Weg in einen umfassenden Dialog fänden und immer weniger davon in der Dunkelheit der Verschwiegenheit, der Scham und juristischen Graubereichen verborgen bliebe, was endlich ins Licht der öffentlichen Wahrnehmung rücken muss.
Die Aktion #aufschrei zeigt aber vor allem eines: Wir sind noch äußerst weit davon entfernt, Tabus aufzubrechen, Geschlechterrollen im 21. Jahrhundert ankommen zu lassen oder gar einen konstruktiven Dialog zu führen.
Ich hoffe sehr, dass sich die unzähligen Mädchen und Frauen, die in den vergangenen Tagen mit ihren teils harmloseren, teils schwerwiegenderen Erlebnissen aus dem Schatten traten, auch weiterhin aufschreien, wenn es darum geht, dieses Problem in den Griff zu bekommen. Raus aus der Opferrolle, raus aus der Defensive. Kein stilles Erdulden mehr von Dingen, die nicht duldbar sind.
Viel zu lange konnten Arbeitskollegen im Job davon ausgehen, dass die junge Kollegin schon keinem was sagen wird, wenn er ihr schon das dritte Mal zufällig und unabsichtlich im Kopierkammerl mit dem Ellenbogen über die Brust streift. Hoppala! „Hab‘ Dich nicht so, der meint das doch nicht böse…“
Viel zu lange waren die netten Onkels von nebenan auf der sicheren Seite, wenn sie der heranwachsenden Nachbarstochter auch mit deren 16 Jahren noch hämisch grinsend über den Hintern streicheln. „Jo mei, das macht er ja schon seit Du ein kleines Kind warst…“.
Viel zu lange konnte man Mädchen und Frauen unbekümmert Frigidität und Prüderie an den Kopf werfen, nur weil sie nicht beim ersten Anmachversuch sofort und bereitwillig ihren Körper zur Verfügung stellen. „Na komm‘ schon, Du willst es doch auch, Du weißt es nur noch nicht…“
Viel zu lange „Selbst schuld, wenn Dich die Männer nur als schmückendes Beiwerk zu Deiner Vagina betrachten. Hättest halt keinen Minirock angezogen…“
Fazit
Beim Thema Sexismus geht es unterm Strich – wie bei so vielen anderen zwischenmenschlichen Problemen – ganz wesentlich um Respekt. Wenn Menschen einander respektieren, haben Benachteiligung aufgrund des Geschlechts, der Herkunft oder anderer irrelevanter Kriterien kein solides Fundament mehr.
Ich persönlich wäre froh zu derjenigen Generation zu gehören, die diese Probleme endlich – zumindest weitestgehend – aus der Welt schafft…